Drei Rezensionen (s.u.)
- Anne Berngruber; Deutsches Jugendinstitut, 2023
- Prof. Dr. Florian Hinken, Ev. Hochschule Berlin, 2022
- Detlef Rüsch, Systemischer Familientherapeut und Sozialarbeiter, 2022
EWR 22 (2023), Nr. 2 (April)
Mit seinem Buch „Jugend in der Krise – Die Pandemie und ihre Auswirkungen“ legt Reinhold Gravelmann eine Publikation vor, die bislang für einen Überblick zur Vielfalt der Lebenswelten und Alltagspraxen Jugendlicher während der Coronapandemie gefehlt hat. Das erklärte Ziel des Buches ist es, umfassend die Zeit der Pandemie sowie ihre kurz- und langfristigen Auswirkungen auf junge Menschen zu beschreiben und zu analysieren (10). Mit dieser Ansage hat sich der Autor durchaus viel vorgenommen. Für sein theoretisches Rahmenkonzept konzentriert sich der Autor auf die drei Kernherausforderungen des Jugendalters, wie sie im 15. Kinder- und Jugendbericht formuliert werden [1]: Qualifizierung, Verselbstständigung und Selbstpositionierung. Damit nimmt er einen eher ganzheitlichen Blick auf die Jugendphase ein, wobei er sich vornehmlich auf die Altersspanne der 12- bis 21-Jährigen konzentriert (11).
Der Autor spannt den thematischen Bogen über verschiedene, für die Jugendphase relevante Lebens- und Sozialisationskontexte. Zunächst legt er in „Jugend in der Pandemie – Der fehlende Rock n Roll des Lebens“ (Kapitel 3) einen Fokus auf das Ausgebremstsein Jugendlicher in Freizeitkontexten wie Sport und Vereinen, da während der Pandemie wichtige Freizeitorte geschlossen waren. Auch die Auswirkungen der Pandemie auf die familialen Beziehungen werden reflektiert (Kapitel 4). Wie hat sich in dieser Zeit das Familienleben gestaltet? Was sind günstige und weniger günstige familiale Rahmenbedingungen, so dass Jugendliche gute Bewältigungsstrategien entwickeln können? Kapitel 6 wirft einen Blick auf die vor und während der Pandemie entstandenen psychischen Belastungen junger Menschen. U.a. wird die häufige Vermischung von psychischen Krisen und Störungen kritisch hinterfragt. Kapitel 10 und 11 behandeln die Auswirkungen von Corona auf den Lernalltag von Jugendlichen und den Übergang in Ausbildung und Beruf. Aber auch digitale Medien, die in der Pandemie eine noch größere Relevanz für die Alltagswelten Jugendlicher erlangt haben, wurden nicht vergessen (Kapitel 12). Selbstverständlich kann die Beschreibung von Lebenskontexten in einem solchen Band nur exemplarisch bleiben. Dennoch fällt auf, dass beispielsweise das Thema der Auswirkungen der Pandemie auf andere soziale Kontexte wie Freundschaftsbeziehungen an der ein oder anderen Stelle zwar angerissen und mitgedacht wird (z.B. 25f.), aber insgesamt auch in dieser Publikation eher nachrangig behandelt wird [2].
Die Publikation weist an vielen Stellen eine notwendige Differenziertheit auf, die in anderen Publikationen häufig vermisst wird. Der Autor macht deutlich, dass es ‚DIE‘ Jugend nicht gibt. So greift er beispielsweise in Kapitel 7 „Wie sehen Jugendliche die Krise?“ aus verschiedenen Publikationen direkte Äußerungen von Jugendlichen auf und lässt damit die junge Generation selbst zu Wort kommen. Durch Einordnungen dieser Zitate in verschiedene Kategorien wie zum Beispiel „rücksichtsvolle Jugendliche“ (49), „regelbrechende Jugendliche“ (50) oder „entspanntere Jugendliche“ (54) wird eine differenziertere Sicht auf Jugendliche deutlich. Der Autor greift auch häufige medial geprägte Zuschreibungen über Jugendliche in der Pandemie auf (z.B. „Corona-Party-Jugend“ oder der viel beschworene Generationenkonflikt in Kapitel 8 sowie „vergessene Jugend“ oder „Generation Corona“ in den Kapiteln 14 und 15) und stellt diesen pauschalen Zuschreibungen verschiedene Studien und jugendpolitische Stellungnahmen entgegen.
Eine weitere hervorzuhebende Leistung ist es, dass der Autor in Kapitel 9 „Junge Menschen in prekären Lebenslagen sind besonders betroffen“ auch die in Studien bis dato weitgehende Vernachlässigung von marginalisierten Gruppen Jugendlicher thematisiert, die häufig immer noch in der wissenschaftlichen Forschung und der öffentlichen Diskussion zu kurz kommen (z.B. Jugendliche mit Behinderung, Jugendliche mit Migrationshintergrund, Geflüchtete, Careleaver*innen). Zudem werden neben den im Buch beschriebenen negativen Auswirkungen der Pandemie auf Jugendliche auch durchaus positive Aspekte der Pandemie auf einen Teil der Jugendlichen benannt (siehe Abschnitt „Überraschende Befunde“ (133)).
Insgesamt entsteht beim Lesen ein wenig der Eindruck, als seien über die Dauer der Pandemie die Lebenslagen junger Menschen konstant gleichgeblieben. Die unterschiedlichen Entwicklungen der Inzidenzen und die damit verbundenen Schutzmaßnahmen hatten jedoch auch Einfluss auf die Veränderungen in Öffnungszeiten von Einrichtungen sowie Orten des Austauschs und damit auch auf die Kontakthäufigkeiten mit anderen und Freiräume von Jugendlichen. Es ist schwierig, die Pandemie als Ganzes zu betrachten, da sich auch hier Schwankungen der Auswirkungen über die Zeit für Jugendliche ergeben haben dürften. Eine stärkere zeitliche Verortung der ausgeführten Studien über den Verlauf der Pandemie im Text wäre daher wünschenswert gewesen.
Seinen Anspruch, auch langfristige Folgen der Pandemie für Jugendliche zu betrachten, kann der Autor leider nicht einlösen. Am Schluss des Buches wagt er zwar einen Blick in die Glaskugel und prognostiziert mögliche langfristige, negative Folgen der Pandemie auf die heutigen Jugendlichen (143ff.), dennoch wird abzuwarten sein, inwiefern sich diese wirklich bewahrheiten werden. Um fundierte Aussagen darüber treffen zu können, sind kontinuierliche und längsschnittliche Studien notwendig.
Positiv hervorzuheben ist, dass der Autor einen gut verständlichen und immer wieder lockeren Schreibstil verwendet, bei dem man sich ein Schmunzeln manchmal nicht verkneifen kann („Und es hat ZOOM gemacht…[ ]“ (102)). Dies ermöglicht es auch einer fachfremden Leserschaft, sich einen verständlichen Zugang zum Thema und einen differenzierten Überblick über die Lebenslagen junger Menschen zu verschaffen.
Abschließend bleibt zu sagen, dass es eine zentrale Leistung des Autors ist, dass er einen beeindruckenden Umfang an empirischer Forschungsliteratur heranzieht und anhand verschiedenster empirischer Studien die Vielfalt des Jugendlichseins, aber auch des Aufwachsens und des Erwachsenwerdens in der Zeit der Pandemie beschreibt. Durchaus anerkennend ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass der Autor in einer systematisch und umfassend aufbereiteten Tabelle im Anhang des Buches (165ff.) einen weitreichenden Überblick zur bisherigen empirischen Studienlage zu dem Thema gibt. Das Buch ist daher für einen Überblick der bis dato veröffentlichten Forschungsliteratur sehr zu empfehlen.
[1] Deutscher Bundestag (2017). 15. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Bundestagsdrucksache 18/11050. Berlin.
[2] Tran, K., Berngruber, A., Herz, A. & Gaupp, N. (2022). Jugendliche und ihre Peers in der Corona-Pandemie – kein selbstverständliches Forschungsthema. deutsche jugend. Zeitschrift für die Jugendarbeit, 70(3), 126-133.
Anne Berngruber: Rezension von: Gravelmann, Reinhold: Jugend in der Krise, Die Pandemie und ihre Auswirkungen. Weinheim: Beltz Juventa 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 2 (Veröffentlicht am 18.04.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377996758.html